13. Juli 1910 – 5. Juni 2000.
Aufgenommen am 9. März 1979 in Genf.
http://www.plansfixes.ch/films/jeanne-hersch/
> Rätselhaft, warum die Philosophin das Porträt zur Veröffentlichung freigegeben hat. Hatte sie keine Zeit – oder kein Interesse – es zu visionieren? Oder war es ihr in seiner ungeschlachten Form gerade recht? „Da seht ihr, was herauskommt, wenn man einen Menschen und seine Gedankenwelt in ein Filmchen von fünfzig Minuten pressen will!“ <
Das Porträt in den „Plans Fixes“ bedeutet verlorene Zeit. Wer Jeanne Hersch kennenlernen will, muss sich zu ihr aufmachen. Dafür braucht es eine List, die sie gleichzeitig durchschaut und billigt. Die Angel ist ein mit Feder geschriebener Brief von acht Seiten. Und den Köder bildet die Einladung zu einer einstündigen, exklusiven Radiosendung: „Das Konversationslexikon des 20. Jahrhunderts, Buchstabe F, Thema Facelifting.“
Die Philosophin meldet sich telefonisch: „Ihr Projekt ist so verschroben, dass ich gern mitmache. Aber wir müssen eine andere Lösung finden. Sie wissen, ich bin 80. Da mag ich nicht mehr von Genf nach Basel fahren. Kommen Sie zu mir!“ „Einverstanden. Aber nur, wenn sich an den Bedingungen nichts ändert: Um zwölf esse ich bei Ihnen zu Mittag statt Sie bei mir. Um drei machen wir einen halbstündigen Bummel durchs Quartier. Dann ziehen wir uns in verschiedene Räume zurück. Um vier gehen zur Aufnahme, und es gibt bis fünf Uhr keine Pause und keinen Schnitt, denn im Studio wäre die Sendung live.“ „Das haben sie mir geschrieben. Ich bin einverstanden.“
Am Genfer Bahnhof kennt der Taxifahrer die Adresse nicht. Er muss sich in der Zentrale nach der Route erkundigen. Sie führt aus der Stadt hinaus über freies Feld. An einem Waldrand hält der Fahrer an und funkt in die Zentrale: „Welchen Weg muss ich nehmen?“ „800 Meter geradeaus, dann links; bei der nächsten Abzweigung rechts.“ Wir fahren durch einen schönen Buchenwald. Am Fenster ziehen die grauen, geraden Stämme vorbei. Der Fahrer verlangsamt den Wagen. Jetzt führt der Weg um einen Bungalow herum. Beim Vorbeifahren erblicke ich Jeanne Hersch am Fenster. Sie schaut von einem Buch auf, das auf ihren Knien ruht. Unsere Blicke begegnen sich.
Der Fahrer hält vor dem Eingang. Beim Aussteigen schlage ich die Tür zu. In der Stille klingt das wie ein dumpfer Schuss. Der Wagen entfernt sich. Ich gehe zum Haus und läute. Nach einer Weile öffnet Jeanne Hersch: „Sie sind zwanzig Minuten zu früh!“ „Ich weiss. Aber ich dachte, ich könne mich nicht mehr verstecken; Sie haben mich ja kommen sehen.“ „Wann?“ „Soeben. Ich bin mit dem Taxi an Ihrem Fenster vorbeigefahren.“ „Ich habe nichts bemerkt. Ich war am Lesen. Aber wenn Sie schon da sind, kommen Sie herein!“
Wir müssen eine Weile warten. Das Mittagessen ist erst um zwölf Uhr bereit. Am Esszimmertisch sitzen uns wir gegenüber. Jeanne Hersch erklärt: „Die Haushälterin kocht für uns. Es gibt Lammkoteletts, Ratatuoille und Kartoffeln. Dazu Wasser, wie Sie geschrieben haben.“ Seit die Philosophin vor dreissig Jahren in das Haus ihrer Eltern gezogen ist, hat sie stets eine alleinerziehende Mutter für den Haushalt engagiert. Auf diese Weise lebt sie nicht allein im Haus, das weit weg vom Schuss zwischen den Bäumen steht. „Heute dürfte man da nicht mehr bauen. Aber 1930 … Wie Sie wissen, lebe ich allein. Oft bin ich für Vorträge eingeladen. Wenn ich dann nachts nach Hause komme, bin ich froh, dass hier Licht brennt und jemand auf mich wartet.“
Die Küchentür öffnet sich einen Spalt breit. Ein dreijähriges Mädchen schiebt sich in den Raum, den Finger im Mund, und betrachtet mich von unten herauf. „Ah, Amélie, du bist auch da!“, ruft Frau Hersch. „Wie geht es dir?“ Das Kind verzieht das Gesicht: „Nicht gut.“ „Ah, was hast du denn?“ „Ich habe Magenschmerzen“. „Wo hast du denn deinen Magen? Zeig mir!“ Das Kind deutet mit der Hand auf die Kehle. „Ah, da hast du deinen Magen.“ Amélie nickt. Dann hüpft sie fröhlich in die Küche zurück.
An der Architekturschule habe ich ein paar Semester lang jede Philosophiestunde mit dieser kleinen Szene eröffnet. Vom dritten Woche an brauchte ich sie nicht mehr zu erzählen, die Studenten kannten sie. Ich konnte mit einem Resümee anfangen: „Bis jetzt haben wir folgende Aspekte beleuchtet. Heute schauen wir die Geschichte unter einer neuen Frage an.“ Es ging mir bei der Übung darum, die Vielfalt möglicher Fragestellungen zu demonstrieren, und auch zu zeigen, wie man konsistente Gedankengänge aufbaut.
Im Wald vor Genf wendet sich Jeanne Hersch nun zu mir: „Sie sind seit Jahren der erste SRG-Mann, der mit mir in Kontakt getreten ist. Ich bekomme häufig Anfragen von der BBC, vom ZDF, vom Deutschlandfunk, vom israelischen Fernsehen. Aber nie von Ihrer Anstalt. Gibt es bei Ihnen eine schwarze Liste?“ „Nein, Frau Hersch, eine solche Liste gibt es nicht. Aber ohne dass es ausgesprochen wird, weiss jeder, dass er sich bei Kollegen und Vorgesetzten nicht beliebt macht, wenn er Sie in eine Sendung nimmt.“
Nun trägt die Haushälterin die Schüsseln auf den Tisch. Die scheue Ausländerin benimmt sich, als ob sie eine Tarnkappe trüge. „Bitte, bedienen Sie sich!“, sagt Jeanne Hersch zu mir. Ich frage: „Darf ich Ihnen auch gerade schöpfen?“ „O ja, gerne.“ Die Küchenfee verschwindet. Die Philosophin und ich beginnen das Tischgespräch, „so, wie Sie mir geschrieben haben“.
Mit dem Alter, erklärt Jeanne Hersch, gebe es Verschiedenes, was sie kaum mehr ertrage. Am wenigsten den „Angélisme“. Was das sei? Nun, zu glauben, die Menschen seien nicht Menschen, sondern Engel. Also reine Lichtwesen, ohne Schatten, ohne Bosheit, ohne Hinterlist. „Um das zu erkennen, braucht man bloss den jüdischen Krieg von Flavius Josephus zu lesen!“, werfe ich ein – und schon haben wir uns gefunden. Das Gespräch entwickelt sich so gelassen weiter, als seien wir seit Jahren miteinander vertraut.
Am liebsten, bekennt Jeanne Hersch, würde sie noch Philosophie im Kindergarten unterrichten. Auf allen Stufen habe sie das Fach betrieben, nur nicht auf der. Mit dem Kindergarten wäre die Karriere vollendet. „Wie würden Sie denn vorgehen?“ „Ich würde den Kindern sagen: Schaut euch zu Hause um! Im Altpapier findet ihr illustrierte Hefte und Werbebroschüren. Bringt morgen ein paar von denen mit!
Dann würde ich sagen: Schneidet alle Sachen aus, die ihr gern habt! Das klebt ihr hier auf diese weissen Bögen. Dann hängen wir die Bögen an die Wand und schauen sie an: Da ist alles, was ihr gern habt. Aber jetzt sagt mir: Kann man alles gleichzeitig haben? Aha. Man kann nicht gleichzeitig Pommes und Ketchup und Eis essen. Man muss eine Ordnung haben. Eins nach dem andern. Womit beginnen wir? Und jetzt eine andere Frage: Gibt es Dinge, die man nicht kaufen kann? Ja. Die Liebe der Mutter. Und schaut: Diese Dinge vergehen gleich. Und die bleiben länger. Daneben gibt es Dinge, die man nicht anfassen kann: Der Friede. Die Gerechtigkeit ... Das müssen wir untersuchen.“
Ich schaue auf die Uhr. Es ist es Zeit, auf den Quartierbummel zu gehen: „Bei mir“, erklärt Jeanne Hersch, „ist es natürlich ein Spaziergang durch den Wald.“ Auf dem Weg gestehe ich: „Mit Ihren Verunsicherungsstunden haben Sie mich vor Jahren gewonnen.“ Jeanne Hersch lacht auf: „Sie haben davon gehört?“ „Ja. Und ich kann sie Ihnen auch wiedergeben. Zu Beginn der ersten Lektion am Gymnasium stellten Sie sich vor: Ich bin Ihre Philosophielehrerin. Wir beginnen heute mit einer Verunsicherungsstunde. Damit erfahren Sie gleich, dass Philosophie mit Verunsichern beginnt. Also. Wir befinden uns hier im Zimmer 31 der Quarta B. Und nun sagen Sie mir: Was ist denn hier? Ich, die Lehrerin, Sie, die Schüler. Und was noch? Ah, die Pulte, die Stühle, die Tafel, die Wand. Gut. Und wie sind die Pulte? Braun. Und die Stühle? Auch. Die Tafel, die ist schwarz, und die Wand ist grau. So, das haben wir festgestellt. Aber stimmt es auch?
Kommen Sie hinaus in den Gang! Halt, bevor der letzte die Türe schliesst: Schauen Sie noch einmal hinein! Was sehen Sie? Ah, das ganze Zimmer. Es ist alles noch da, bloss wir nicht. Und was sehen Sie? Tafel, Pulte, Stühle, Wand. Und wie sind die? Braun, schwarz, grau. Gut, das sagen Sie. Aber stimmt es auch? Die Farben sind doch Reflexionen des Lichts, die unsere Netzhaut wahrnimmt. Doch wenn unser Auge nicht ins Zimmer blickt? Ah, dann ist alles zwar noch da, aber ohne Farben, wie in einem Schwarzweiss-Film. Stimmt das?
Pulte, Tafel, Stühle sind Gegenstände, die wir mit unseren Worten bezeichnen. Für die Fliege, die im Raum geblieben ist, bilden sie eine einzige undefinierte Landschaft. Was sagen Sie? Vielleicht sei nichts drin? Nein, das kann man auch nicht sagen, denn wenn wir wieder hineingehen, ist alles wieder genau so da, wie wir es verlassen haben. Aber Sie haben recht: Wir wissen nicht, was es ist. Wir wissen nur, was die Objekte für uns sind. Nicht aber, was sie für sich sind. Und auch nicht, was sie an sich sind.“ Jeanne Hersch lächelt: „Und jetzt, wie geht es weiter?“ „Jetzt machen wir Pause, und dann schreiten wir zur Aufnahme.“
Anderthalb Stunden später ist es Zeit auseinanderzugehen. „Während wir auf das Taxi warten, möchte ich Ihnen gern noch den Rest des Hauses zeigen.“ Die Philosophin führt mich durch die verschiedenen Räume. Am Schluss betreten wir ihr Schlafzimmer. Neben dem Bett steht ein Büchergestell. Siebzig, vielleicht neuzig Bände sind da aufgereiht. „Da haben Sie alle Werke, die ich vor meinem Tod noch lesen möchte.“ Ich verstehe. „Danke, Frau Hersch, dass wir heute zusammenkommen konnten. Ich werde unsere Begegnung nie vergessen.“