Jean-René Bory: Historiker, Schriftsteller.

29. August 1928 – 28. Juni 2009.

 

Aufgenommen am 20. Dezember 2004 in Coppet.
http://www.plansfixes.ch/films/jean-rene-bory/

 

> Vollständigkeit oder Wesentlichkeit? Beides ist nicht zu haben. Das weiss jeder, der schreibt. Im Porträt von Jean-René Bory versuchen aber der Interviewer und der Befragte die Quadratur des Zirkels. Kontradiktorisch teilen sie die Rollen untereinander auf: Michel Dubois, der Fragende, ist besorgt um die Vollständigkeit, und Jean-René Bory bringt das Wesentliche. <

 

Die Rollenaufteilung bestimmt die Form der Auftritte: Michel Dubois ist hölzern und beflissen; Jean-René Bory dagegen beweglich, urban, eloquent. Er schafft es, mit wenigen Worten Fülle, Spannung und Leben herzustellen, während Dubois mit einem trockenen Blatt die Fäden gleich wieder zerreisst. Auf dem Papier stehen die Bereiche, die das öffentliche Ansehen von Jean-René Bory ausmachen; und die sollen von der Liste abgehakt und im Film zur Sprache gebracht werden.

 

Theoretisch wäre es besser gewesen, wenn Bory einfach hätte reden können. Aber der Historiker ist nicht so gestrickt. Er braucht, um zu grosser Form aufzulaufen, ein Gegenüber, so unbeholfen es auch sei. So führt er am Westschweizer Radio 28 Jahre lang eine wöchentliche Sendung über Geschichtsthemen durch, immer befragt von einem Radiomann, auch wenn der manchmal kaum eine Ahnung hat, worum es geht. Aber das gehört zum Spiel; er vertritt den Hörer, der auch nicht mit dem Gegenstand vertraut ist, sich aber jetzt, Freitag für Freitag im ersten Programm zwischen acht und neun Uhr abends von Borys stupender Darstellungs- und Erzählgabe mitreissen lässt.

 

Jean-René Bory versteht es – und das Porträt in den „Plans Fixes“ vermittelt davon eine Ahnung –, das einzelne mit dem Ganzen zu verknüpfen und hinter den geschichtlichen Daten das Allgemeine hervortreten zu lassen. Damit betreibt er Historiographie im Sinn Egon Friedells: „Oft wird ein ganzer Mensch durch eine einzige Handbewegung, ein ganzes Ereignis durch ein einziges Detail schärfer, einprägsamer, wesentlicher charakterisiert als durch die ausführlichste Schilderung. Kurz: die Anekdote in jederlei Sinn erscheint mir als die einzig berechtigte Kunstform der Kulturgeschicht­schreibung.“

 

Die Konversationssituation ist der geforderten Zuspitzung dienlich. „Dies führt uns“, ergänzt Egon Friedell, „zu einer zweiten Eigentümlichkeit aller fruchtbaren Geschichtsdarstellung: der Übertreibung. ‚Die besten Porträts‘, sagt Macaulay, ‚sind vielleicht die, in denen sich eine leichte Beimischung von Karikatur findet, und es lässt sich fragen, ob nicht die besten Geschichtswerke die sind, in denen ein wenig von der Übertreibung der dichterischen Erzählung einsichtsvoll angewendet ist. Das bedeutet einen kleinen Verlust an Genauigkeit, aber einen grossen Gewinn an Wirkung. Die schwächeren Linien sind vernachlässigt, aber die grossen und charakteristischen Züge werden dem Geist für immer eingeprägt.‘ Die Übertreibung ist das Handwerkszeug jedes Künstlers und daher auch des Historikers. Die Geschichte ist ein grosser Konvexspiegel, in dem die Züge der Vergangenheit mächtiger und verzerrter, aber um so eindrucksvoller und deutlicher hervortreten.“

 

Man kann sich vorstellen, wie die Universität auf Borys Geschichtsdarstellung reagiert, auch wenn (oder gerade weil) er an einem einzigen Radioabend mehr Hörer erreicht als ein durchschnittlicher Professor im Lauf seines ganzen akademischen Lebens. Die Kritiker aus der Zunft qualifizieren Auftritte wie den Borys als „Feuiietonwissenschaft“ ab und übersehen dabei, erklärt Jürgen Kaube von der F.A.Z., „dass sie soeben noch gefordert haben, die Wissenschaft müsse sich der Öffentlichkeit verständlich machen, was ausserhalb der Öffentlichkeit, also der Massenmedien, allerdings schlecht geht. (Vielleicht wäre es darum hilfreicher, zwischen dem unbegabten Feuilletonwissenschaftler zu unterscheiden und jenem Wissenschaftler, dem auch unter Bedingungen erhöhter Sichtbarkeit noch etwas Nachdenkens­wertes einfällt.)“

 

Am Radio wird mit den Jahren Jean-René Borys Position zunehmend ungemütlich, vor allem nach Einführung der zweiten Programme, wo die Fachredaktoren auch wer sein wollen. Ein Experte als Interviewpartner: okay. Aber ein Experte als ständiger freier Mitarbeiter mit eigener Sendung und Vertrag 4: unerträglich. Er stellt ja die festangestellten Programmitarbeiter in den Schatten. Also kommt man im Studio Genf zur Lösung: Abschaffen! „Sie wollten keine Stars mehr“, erklärte mir Jean-René Bory nach der „Programmreform“ achselzuckend. (Il ne voulaient plus de vedettes.)

 

Das Konversationstalent aber wurde den Borys in die Wiege gelegt. Vom 15. Jahrhundert an gehörten sie zu den burgerlichen Geschlechtern von Coppet. Sie stellten Notabeln und Syndics (Bürgermeister), ja sogar Vize-Regierungsstatthalter zur Zeit der bernischen Besetzung. Neben seinem Amt als Syndic war Jean-Renés Vater, gleich wie seine Väter und Vorväter, auch Kastellan, d.h. Verwalter des Schlosses, das durch den Baron Necker und seine Tochter Germaine de Staël Weltruhm erlangt hat (gleich hinter Versailles). In ihrem Salon vereinigte die Verfasserin von „De l’Allemagne“ mit der antinapoleonischen Intelligenz eine, wie sie es nannte, „literarische Invasion“, die sich als „Groupe de Coppet“ in die Geschichte eingeschrieben hat.

 

Von Vater Bory ging die Verwaltung des Schlosses auf Jean-René über, gleich wie der fünfhundertjährige Familiensitz, in dem nun, am 20. Dezember 2004, die Aufnahme für die „Plans Fixes“ stattfindet. Bei der ganzen Begegnung aber hallt noch nach, was ein Gast, der Berner Patrizier Karl Viktor von Bonstetten, am 4. Juni 1812 in einem Brief nach Kopenhagen festgestellt hat: „Es wird in Coppet in einem Tage mehr Witz [Geist] versprüht, als in manchem Lande in einem Jahr.“

 

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