- Januar 1907 – 27. Dezember 1982.
Aufgenommen am 19. Dezember 1977 in Lausanne.
http://www.plansfixes.ch/films/constantin-regamey/
> Am 28. Januar 1977 hat er den 70. Geburtstag gefeiert. Da wurden seine Werke wieder aufgeführt. Jetzt kommt noch – wenige Tage vor Ablauf des Jubiläumsjahrs – das Filmteam, um sein Porträt festzuhalten. Es sieht für Constantin Regamey aus, als bedeute die späte Anerkennung den Durchbruch für alle Zeiten. Doch ein halbes Jahrhundert später ist er vergessen. <
Drehort Lausanne. Ein Raum in der Wohnung von Constantin Regamey. An kahler Wand steht ein Klavier. Da komponiert nachts der Siebzigjährige. Am Tag schläft er. Der Ort hat die Ausstrahlung eines Bunkers. Man sieht den Klavierstuhl. Das abgeschabte Kissen. Das Filmteam ruft: «Bereit zur Aufnahme!» Der Gefeierte nimmt Platz. Er weiss, dass er für die Nachwelt festgehalten wird. Von jetzt an zählt jedes Wort. Deshalb steigert er sein Erscheinen zum Auftritt.
Es geht um die letztgültige Selbst-Darstellung. Ein heikles Projekt. In seiner «Recherche» schrieb Marcel Proust: «Man sollte, aus Vorsichtsgründen, nie von sich reden, denn es handelt sich um einen Gegenstand, bei dem man sicher sein kann, dass die Sicht der andern nie mit der unseren übereinstimmt.» Und so ist’s. Constantin Regamey sah sich immer verkannt. Die Kritik nannte seine Werke «eklektisch», ja «synkretistisch», wo es ihm doch um «Vielfalt» ging, und um «Breite der Aspekte».
Und nun gar die Etikettierung! Wikipedia nennt ihn einen «polnischen Schriftsteller». Im «grossen Lexikon der Musik» dagegen figuriert er als «Schweizer Komponist». Die «Plans Fixes» bezeichnen ihn als «Komponisten und Orientalisten». Der «Oxford Companion to Music» indes kennt ihn nicht, sowenig wie der Brockhaus. Doch heute, am 19. Dezember 1977, will Constantin Regamey zensurfrei mitteilen, wie er sich sieht.
Die Ausführungen lassen sich in einem Wort zusammenfassen: «anders». Die erste Hälfte der Biographie entspricht einem durchgehenden Gerade-noch-Davonkommen. Denn der mitteleuropäische Kessel, in dem Constantin und seine Eltern lebten, wurde zwischen 1907 und 1947 von der Geschichte gehörig durcheinandergequirlt. Reisen, umziehen, sich neu orientieren war eine tägliche Aufgabe. Die Regimewechsel, welche die verschiedenen russischen Heere durch Vorrücken und Zurückweichen mit sich brachten, prägten das Leben der Familie in Kiew. Der Zehnjährige sah die Gefechte auf den Strassen mit ihrem Blut, mit ihren Toten, mit ihren Verletzten, mit ihren Flüchtenden, mit ihren Eroberern, mit ihren Eroberten, mit ihren Abgeführten... Nicht anders gestaltete sich die Lage in Warschau, wo sich die Mutter nach der Flucht durch den Balkan am Ende mit dem Jungen niederliess.
Constantin aber erwarb durch diese Zeitenläufe eine besondere Resistenz: Er lernte aus den Trümmern der Zivilisation jene Spurenelemente zu ziehen, die er brauchte, um die Seele zu nähren und die Persönlichkeit zu bilden. – Dabei erfuhr er, wie der KZ-überlebende Psychiater Viktor E. Frankl ausführt: «Not und Tod, beide machen das Dasein des Menschen nicht sinnlos, sondern überhaupt erst sinnvoll. Die Einmaligkeit unseres Daseins in der Welt, die Unwiederbringlichkeit unserer Lebenszeit, die Unwiderruflichkeit all dessen, womit wir sie ausfüllen – oder unerfüllt lassen – das ist es, was unserem Dasein Bedeutungsschwere gibt.»
Constantin Regameys Geist wurde durch Sprachen ausgefüllt. Bis zur Matur beherrschte er acht oder neun, am Ende deren zwölf. Kein Wunder, bekam er mit 29 Jahren an der Universität Warschau einen Lehrauftrag für indische Philologie. Daneben schrieb er Musik – und schrieb über Musik. Mit dreissig, sagt der 70jährige mit kokettem Stolz, war er in Polen, «sprechen wir das Wort aus: berühmt».
Doch dann kam der Zweite Weltkrieg. Er brachte die Invasion Polens durch die Wehrmacht. Constantin Regamey hätte sich absetzen können. Er besass, vom Ur-Urgrossvater her, den Schweizer Pass. Doch er blieb im Land, «dem ich so viel verdankte», und schloss sich dem Widerstand an. Während sich in seiner Wohnung die Führer trafen, suchte er unter einem Vorwand die Gestapo auf, um sich ihr als «unverdächtiger Schweizer» in Erinnerung zu rufen.
Am Ende des Kriegs kommt Constantin Regamey in die Schweiz. Als erstes sucht er Ernest Ansermet auf. Doch der hat nur den Rat: «Wenn Sie nicht verhungern wollen, machen Sie alles ausser Musik.» Also Wissenschaft. Es trifft sich, dass an der Universität Freiburg i. Ü. ein Lehrauftrag für allgemeine Linguistik frei ist, und an der Universität Lausanne einer für slawische und orientalische Sprachen. Damit bringt sich Constantin Regamey bis zur Pensionierung durch.
Mit dem rhythmischen Instinkt des Musikers und dem linguistischen Flair des Polyglotten, der die Eigenart der Sprachen erfasst, formuliert Constantin Regamey nun die Darstellung seines Lebens in einer Weise, die Herder «idiotisch» genannt hat, das heisst: gleichzeitig korrekt und eigenständig. Bei ihm kommen die Wörter einzeln aus der Höhe geflogen wie die Schwalben und setzen sich treffsicher auf den Draht des Gedankens, um einen vollkommen stimmigen, durchgängigen Satz zu bilden.
Schon an dieser Kompositionsweise zeigt sich: Constantin Regamey ist nicht austauschbar. Er hat sich durch die Beschäftigung mit vielen Kulturen eine eigene Persönlichkeit gebildet, die durch seine Sprechweise wahrnehmbar wird. Damit ist er im wahrsten Sinne des Wortes ein Ausnahmemensch.
Das druckreife Reden für die Filmaufnahme ist aber für den Siebzigjährigen anstrengender, als er zugibt. Während die zweitletzte Spule zuende rollt, wird Regameys rechter Arm von einem beängstigenden Zittern gepackt. Erschöpfung kann die Ursache sein – oder das Wiederaufflammen unterdrückter traumatischer Erlebnisse. Im konkreten Fall wohl beides. Ein Jahr später ist Constantin Regamey halbseitig gelähmt. Schreiben kann er nicht mehr. Er bleibt vier Jahre ans Bett gefesselt, bis ihn der Tod erlöst.
Doch dieses Ende ist lange, lange vorbei. Die letzte Komposition, deren Orchestrierung er Jean Ballissat noch diktieren konnte, ist, wie alle andern, nicht mehr zu hören. Der Name Constantin Regamey bezeichnet heute nur noch ein untergegangenes Universum. «Die Pythia antwortete nicht mehr, und auf einmal war sie nicht mehr da, und auch Tiresias war verschwunden, und mit ihm der bleierne Morgen, lastend über Delphi, das auch versunken war.» (Friedrich Dürrenmatt: Das Sterben der Pythia)