Archibald Quartier: Naturforscher.

8. Februar 1913 – 1. März 1996.

 

Aufgenommen am 24. Oktober 1986 in La Chaux-de-Fonds.

http://www.plansfixes.ch/films/archibald-quartier/

 

> Fünfundneunzig Prozent seiner Bekanntheit verdanke er dem Vornamen, sagt Archibald Quartier selbstironisch. Immerhin. Der Vorname brachte ihn mit einem Spitzenresultat, das zuvor noch kein Sozialdemokrat errungen hatte, ins Neuenburger Kantonsparlament. Und sein bodenständiger Humor machte ihn zur Persönlichkeit. <

 

Archibald Quartier kam in einer Zeit zur Welt, als die Leute noch Übernamen trugen. Die Sitte starb nach 1970 aus. Aber vorher nannten Eltern und Schüler untereinander den Lateinlehrer nicht Schafroth, sondern Schöps; den Mathematiklehrer nicht Schilt, sondern Schloch; den Geschichtslehrer nicht Audétat, sondern Chräj. So auch die Kinder: Charles Staub wurde Galette gerufen; sein Bruder Pudding. Und Maria Schär ds Müsli.

 

Dergestalt verhielten sich die Dinge auch in Boudry, dem Dorf, an dem vorbei die Areuse aus dem Val de Travers, dem «Absinthloch» (ein weiterer Übername), in den Neuenburgersee fliesst. Da war der Name Archibald für die Kinder ein Geschenk, um ätzenden Spott zu üben. Sie nannten den Namensträger bald Architecte, bald Hannibal, Archicon oder Archicul. Die Verhunzungen aber bildeten für Archibald das Geschenk, sich von Kindesbeinen an in der Meute durchsetzen zu lernen. Er machte das mit einer Mischung von pfiffigem Witz und bodenständigem Humor. Damit wurde er populär.

 

Die Volkstümlichkeit kam ihm zugute, als er nach dem Studium der Naturwissenschaften an der Universität Neuenburg zum kantonalen Naturschutzinspektor gewählt wurde. Der Onkel hätte ihn zwar lieber als Pfarrer gesehen. Darum hatte er am Gymnasium Latein und Griechisch belegen müssen. Doch nun predigte er nicht auf der Kanzel, sondern in der Natur. Wenn er den Fischern ausreden wollte, immer feinere Netze zu nehmen, erklärte er ihnen: «Je kleiner die Maschen, desto kleiner die Fische. Je kleiner die Fische, desto jünger die Individuen. Wie soll da Nachwuchs entstehen? Wir hätten dasselbe Problem, wenn bei uns alle Mädchen abgeschlachtet würden.»

 

Gleich träf argumentierte Archibald Quartier gegen die Verschmutzung der Gewässer: «Früher waren die Fischer dreckig und die Seen sauber. Heute sind die Fischer sauber, aber die Seen dreckig.» Das Wort Ökologie war damals noch nicht in aller Munde. Aber der Naturschutzinspektor rief: «Wenn es keine Fische mehr gibt, geht es der Natur schlecht – und uns auch!»

 

Es war höchste Zeit. 1966 warnte das Solothurner Strandbad durch grosse Tafeln: «Das Baden in der Aare geschieht auf eigenes Risiko. Vorsicht! Wasser verschmutzt. Nicht schlucken. Nach dem Baden abduschen.» Am Neuenburgersee war das Baden komplett verboten. Auf den Schildern stand: «Eau polluée».

 

Mit ein paar Gleichgesinnten setzte Archibald Quartier die eidgenössische Gewässerschutzinitiative in Gang. Sie rüttelte Politik und Bevölkerung auf. Sie veranlasste den Bau von achthundert Kläranlagen. «Wenn ich von jeder ein Glas Wein verlangen könnte …», sinniert der 73-jährige während der Aufnahme für die «Plans Fixes».

 

Daneben setzte er sich für die Artenvielfalt ein. Die Steinböcke am Creux du Van gehen auf ihn zurück. Gern hätte er auch, zur Regelung des Bestands, ihren natürlichen Feind in den Jura zurückgebracht: «Doch habe ich vergessen, dem zuständigen Regierungsrat zu sagen: ‹Pst! Kein Wort von den Bären!›» – Nun aber gingen am Tag nach der Pressekonferenz die Wogen derart hoch, dass auf die Ansiedelung des Braunbären verzichtet werden musste. «Beim Luchs haben wir’s schlauer gemacht. Da haben wir nach der Aussetzung zwei Jahre gewartet, bis wir das Tier erwähnten.»

 

In der zweiten Hälfte seiner Karriere leitete Archibald Quartier während zwanzig Jahren das naturhistorische Museum Neuenburg. Sein Bon sens machte ihn beim Volk beliebt, weniger bei der Exekutive. Das scheuklappenlose Denken entspricht dem Ideal der Frühaufklärung. «Bon sens» bedeutet gesunder Menschenverstand, verbunden mit einer Anschaulichkeit, welche die Zuspitzung nicht scheut.

 

1691 brachte Christian Thomasius ein Buch zur «Ausübung der Vernunft-Lehre» heraus. Der unvergleichliche Brockhaus von 1841 schreibt über ihn: «Die Orthodoxie bekämpfte er, weil sie zur Beschränkung der Denkfreiheit führte, und ebenso richtete er später seine Angriffe gegen die Scheinheiligkeit der Pietisten».

 

In der Anleitung zum Denken befiehlt Thomasius: «Miste vor allen Dingen deinen Verstand aus, das heisst: Lege die Verhinderungen [Tabus] weg und bestreite die Praejudicia [Vorurteile] als den Ursprung aller Irrtümer. Fange zuerst an, sie beide zugleich zu attackieren, und weil du bisher des öfteren erfahren, dass du teils von anderen Leuten, teils durch deine eigene Praecipitanz [Übereilung] bist betrogen worden, so traue künftig nicht mehr so leicht, sondern fange an und zweifele.»

 

Das Selberdenken, das Bezweifeln der Tabus führt bei Archibald Quartier zu grosser Besorgnis über das Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt. «Die Regierungen müssten dagegen vorgehen», stellt der Interviewer fest. «Aber wie?» «Sie müssten den Leuten Fernseher schenken. Dann wüssten sie was machen am Abend», antwortet der Naturwissenschaftler in der Aufzeichnung von 1986.

 

Heute würde die Passage einen Shitstorm auslösen. Aber es hat sich ohnehin vieles geändert. Nicht immer zum Guten. Beim Diktieren dieses Essays hat Siri das Wort «Denkfreiheit» nachträglich zu «Bank Freiheit» umkorrigiert...

 

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