Jean-Luc Bideau: Schauspieler.

1. Oktober 1940 –

 

Aufgenommen am 16. März 2017 in Genf.

http://www.plansfixes.ch/films/jean-luc-bideau/

 

> «Jede menschliche Seele hat eine Portion Indolenz, wodurch sie geneigt wird, das vorzüglich zu tun, was ihr leicht wird.» Die Beobachtung, welche Georg Christoph Lichtenberg in seinen «Sudelbüchern» festgehalten hat, spricht Jean-Luc Bideau nun in der Aufnahme für die «Plans Fixes» aus. Doch der unablässige Kampf «bis aufs Blut» gegen die – sagen wir: «natürliche Geistesträgheit» hat Jean-Luc Bideau nach vorn gebracht. Heute ist er für Zeit und Ewigkeit das Gesicht des neuen Westschweizer Films. <

 

Um zu erfahren, wer Jean-Luc Bideau Ist, muss man ins Kino oder ins Theater gehen. Da spielt der grossgewachsene Mann (Körperlänge: 192 cm) in der Regel die Hauptrolle. Natürlich in den Filmen von > Alain Tanner, Michel Soutter und Claude Goretta. Oder in seinen Soloprogrammen auf der Gastspielbühne. Aber auch an der Comédie-Française, wo er als erster Schweizer den Rang eines Gesellschafters erringt und sieben Spielzeiten hindurch den «eingebildeten Kranken» verkörpert. Die Liste von Jean-Luc Bideaus Rollen ist ehrfurchtgebietend und, was die Zahl der Auftritte betrifft, gewiss länger als die Predigtliste eines durchschnittlichen Münsterpfarrers.

 

Die «Plans Fixes» bringen nun, ihrem Konzept gemäss (ein Gesicht – eine Stimme – ein Leben), am Ende des Weges hinter den vielen Rollen des Schauspielers den Menschen zum Vorschein. Und da zeigt sich (oder da zeigt er): Jean-Luc Bideau ist einer von uns. Bescheiden, wie es sich für einen Schweizer gehört, wehrt er Lob und Bewunderung des Interviewers ab. «Ach, das war nichts Besonderes», ruft er ein paarmal und betont, dass er weitaus Begabteren begegnet ist, zum Beispiel Gérard Depardieu oder Philippe Noiret. Auf die war er neidisch. Als ehrlicher Schweizer gesteht das jetzt der 76-jährige im Film. Aber er zieht einen Unterschied zwischen Neid und Eifersucht: Neid spornt an, bezeichnet ein Vorbild, setzt ein Ziel. Darum ist er für Jean-Luc Bideau nicht negativ. Weitaus schädlicher sind Anspruchslosigkeit und Selbstzufriedenheit. Dazu hat schon Lichtenberg notiert: «Es ist für die Vervollkommnung unseres Geistes gefährlich, Beifall durch Werke zu erhalten, die nicht unsere ganze Kraft erfordern. Man steht alsdann gewöhnlich stille.»

 

Aus diesem Grund wird für Jean-Luc Bideau die Beziehung mit der tschechischen Regisseurin Marcella Salivarova entscheidend für die Karriere, das Selbstverständnis als Schauspieler und das Glück als Mensch. Als er sie bei einem Gastspiel in Prag kennenlernt, sagt sie ihm als erstes: «Sie haben schlecht gespielt!» Diese selbe Ehrlichkeit bringt sie später mit in die Ehe, die bis zum Zeitpunkt der Aufnahme, also über fünfzig Jahre lang, standhielt – und in die künstlerische Zusammenarbeit.

 

Wenn Marcella mit Jean-Luc Soloprogramme erarbeitet, treibt sie ihn zum äussersten. Und er sie: «Zehnmal ist sie von den Proben weggelaufen: ‹Ich kann nicht mehr!›», erzählt Jean-Luc Bideau. «Dann bin ich ihr auf die Strasse gefolgt: ‹Bitte komm zurück! Versuchen wir’s noch einmal!›» Es ging bei dieser Arbeit darum, das Bewährte, Bequeme hinter sich zu lassen und durch strengen Anspruch an sich selbst neuen Ausdruck zu finden. Das ist die Lektion, die Jean-Luc in der zehnjährigen Zusammenarbeit mit Marcella erhalten hat. Er hat sie bis zum Schluss seiner Karriere nicht vergessen.

 

Frau und Kinder waren der Grund, dass Bideau in der Schweiz verankert blieb, statt in die internationale Welt des Films zu entfliegen. Jean-Luc ist in zerrütteten Verhältnissen aufgewachsen. Nun bedeutet das Familienleben für ihn das höchste Glück. Dafür nahm er Einschränkungen der Karriere in Kauf. Es musste Geld hereinkommen, um Frau und Kinder durchzubringen. «Schauen Sie, wie ich vor Ihnen sitze!», sagt er jetzt mit leicht provokantem Stolz. Er zeigt auf Hemd und Veston: «Das muss man sich erarbeiten. Das kommt nicht von selbst.» Er hat recht. «Leben ist an sich schon eine Leistung, und eine gefreute Familie durchbringen erst recht», sagte kürzlich der norwegische Psychologe und Drehbuchautor Roland Zistler (> Jean Louis Claude).

 

Besonders unerforschlich sind die Wege auf dem stark gewellten Feld der Kunst. Bideau hat es erfahren: Er schaffte es, unter tausend Bewerbern an die Schauspielklasse des Pariser Konservatoriums aufgenommen zu werden. Bei der Abschlussprüfung errang er den zweiten Preis. Und dann: nichts. Dann: Nebenrollen. Dann: Flaute.

 

Dann kommt er zum Schweizer Film. Warum er da genommen wird? Jean-Luc Bideau kann es nicht erklären. Er sagt nicht: «Weil ich gut bin». Oder: «Weil ich Ausstrahlung habe.» Aber er wird zu einem der «acteurs fétiches du nouveau cinéma suisse» (Wikipedia). La Bruyère kennt den Grund: Jean-Luc Bideau ist nicht nur körperlich, sondern auch künstlerisch und menschlich überdurchschnittlich: «Ein Mensch, der nur in einem gewissen Mittelmass Geist hat, ist ernst und in einem Stück; er lacht nicht, er scherzt nie, er zieht keine Früchte aus Kleinigkeiten; so unfähig er ist, zu großen Dingen aufzusteigen oder sich durch Nachgeben den kleinsten anzupassen, so weiss er auch kaum, wie er mit seinen Kindern spielen soll.» Lerne!

 

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