19. April 1934 –
Aufgenommen am 13. Oktober 2006 in Russin.
http://www.plansfixes.ch/films/jean-ziegler/
> Wenn in 14 Jahren die Eidgenossenschaft neue Banknoten ausgeben wird und der Trend wieder auf die Abbildung von Persönlichkeiten zulaufen wird, bestehen hohe Chancen, dass die Hunderternote das Porträt von Jean Ziegler tragen wird. Jedenfalls wird die Stadt Thun, wenn sie nicht schläft, am 19. April 2034 (Zieglers hundertstem Geburtstag) den Mühleplatz nach ihm umbenennen müssen. Warum man aber schon heute nicht um den engagierten Intellektuellen herumkommt, zeigt das Porträt in den «Plans Fixes». <
Die Faszination, die von Jean Ziegler ausgeht, lässt sich im Wort «Unmittelbarkeit» zusammenfassen. Eric Berne, der Vater der Transaktionsanalyse, sagte, Unmittelbarkeit sei schwer zu definieren: «Aber wenn sie auftritt, erkennt man sie sofort.» Das zeigt sich auch, sobald Jean Ziegler beginnt, Vater und Mutter zu beschreiben; und die glückliche Kindheit, die er mit ihnen haben durfte.
Gleich steht uns die Situation vor Augen. Wir sind zusammen mit dem Erzähler – mit ihm als Kind, mit der Beschreibung seiner Mutter, seines Vaters – im Familienleben drin. Bei dieser Art des Berichtens, die aufs «Mit» ausgeht, wird die Grenze zwischen ich und du und ihr und wir überstiegen durch das Gemeinschaftserlebnis. Das schafft Unmittelbarkeit.
Zu verdanken ist die Präsenz, die Ziegler herzustellen vermag, einer Sprache, die sich nährt aus Genauigkeit, Gefühl und Anschaulichkeit. Reden wir zuerst vom Gefühl: Jean Ziegler bleibt beim Erzählen nicht kalt. Seine Emotionalität gestaltet die Botschaft mit. Dadurch wird sie packend. Zugleich ist sie komplex. Das macht sie faszinierend.
Jean Ziegler übermittelt nicht bloss, wie es ihm seinerzeit zumute war, als er die Verdingkinder in ihren dünnen Kleidchen vor dem Fenster vorbeiziehen sah; er spricht auch die Empörung aus, die er daraufhin als Heranwachsender empfand; und das Mitleid, das ihn heute, im Alter von 72 Jahren, für die sprachlose Generation seiner Eltern bewegt.
Durch die Mehrschichtigkeit der Gefühle spricht sich die Mehrschichtigkeit der Person aus. Und die Mehrschichtigkeit eines durchlaufenen Lebens. Der Erzähler ist sich der Komplexität bewusst und markiert die verschiedenen Ebenen durch leichte Veränderungen von Ausdruck und Haltung, durch kleine Hand- und Augenbewegungen und durch sprachliche Differenzierungssignale.
Damit schafft er beim Reden, wenn man so will, eine polyphone Partitur, die an die Mehrstimmigkeit von Mozarts Klaviersonaten erinnert. Mozart (und nicht Bach), weil er in seinem Fluss mitreissende Freude vermittelt, wie sie der Theologe Karl Barth beim Wiener Ausnahmemenschen fand: «In Mozart ist alles drin: Freude und Schmerz, Aufbruch und Niedergeschlagenheit. Doch vor allem Mut. Mut, immer wieder neu anzufangen, Mut, seine Aufgabe zu meistern. Mut zum Leben.»
Jean Ziegler spricht druckreifes Französisch, obwohl er in Thun mit dem berndeutschen Idiom aufgewachsen ist. Sein Akzent weist auf diese Wurzel zurück. Aber das tut der Richtigkeit, mit der er die Worte setzt, keinen Abbruch. Und der Anschaulichkeit schon gar nicht. Durch sie unterscheidet sich seine Sprache, die eine Sprache der einfachen Leute ist, gegenüber der abstrakt gewundenen Redeweise der akademisch Gebildeten.
Den Unterschied zwischen der Sprache des Herzens und der Sprache des Intellekts trägt das Porträt in den «Plans Fixes» selber vor. Der Interviewer Richard Lebévière möchte konzeptionelle und epistemiologische Aspekte verhandeln und tut das in Sätzen, die auf Begrifflichkeit und Systematik zielen und weite Felder öffnen. Doch während er sich zum Drechseln seiner geschraubten Sätze anschickt, wirft Ziegler ungeduldige «Ja, ja, ja»-Partikel dazwischen, als wollte er sagen: «Ich weiss schon, worauf du hinstrebst; aber ich finde etwas anderes wichtig.» Und dieses andere bringt er denn auch zur Sprache, unbekümmert darum, ob es als Antwort auf die Frage taugt oder nicht.
Die Divergenz der Redeweisen illustriert den Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Theorie entsteht aus der Distanz und abstrahiert von der Persönlichkeit. Praxis aber verlangt Beteiligung im Sinne Lichtenbergs: «Es tun mir viele Sachen weh, die andern nur leid tun.» Als engagierter Mensch (der eben mehr ist als Wissenschaftler) darf man sich nicht mit dem Sehen begnügen; man muss mitempfinden und miterleben. Dann erst steht man auf einer Stufe mit Gotthelf, der in «Anne Bäbi Jowäger» schrieb: «Gegen die Menschen war er milde und je milder, um so niedriger sie stunden, jedoch konnte er gegen Unvernunft sehr heftig werden und umso heftiger, je höher herab sie kam.»
Mit seiner tätigen Wissenschaft, die auch vor Heftigkeit nicht zurückschreckt, ist Jean Ziegler aus dem Kreis der blossen Akademiker herausgetreten. Und durch sein Engagement hat er sich vor Welt und Nachwelt so profiliert, dass die Schweiz im Lauf der Jahre nicht darum herumkommen wird, ihn auf eine Stufe mit Pestalozzi und Gotthelf stellen. Dann wird die Banknote für ihn fällig werden. Pestalozzi hatte sie schon; und Gotthelf seine Gedenkmünze. Jetzt ist Ziegler an der Reihe. Qui vivra, verra.