Oscar Forel: Psychiater.

20. September 1891 – 7. November 1982.

 

Aufgenommen am 23. und 24. Mai 1980 in Saint-Prex.

http://www.plansfixes.ch/films/oscar-forel/

 

> Der Psychiater Oscar Forel trägt einen berühmten Namen. Sein Vater Auguste, ebenfalls Psychiater, brachte es am Ende des 20. Jahrhunderts auf die Schweizer Tausendernote. „Sicher wäre er stolz gewesen, das zu wissen“, vermutet der Interviewer. Der Sohn widerspricht: „Er hätte nur gelacht. Mit Geld hatte er nichts am Hut.“ So zeigt sich der eigenständige Charakter der Forels in der Begegnung mit dem Sohn von Anfang an auf beeindruckende Weise. <

 

Aus Rücksicht auf das hohe Alter des 89jährigen weichen die „Plans Fixes“ von ihrem Konzept leicht ab. Wenn es sonst am Anfang des Films heisst: „Ein Gespräch in Schwarz-Weiss ohne Wiederholungen und Schnitte“, so fehlt diesmal die Zeile in Oscar Forels Porträt. Das Dokument ist voller Schnitte. Sie gehen nicht auf den Wechsel der Filmrollen zurück, sondern auf die Gebrechlichkeit des Befragten. Darum entsteht die Aufnahme auch nicht an einer einzigen, durchgängigen Sitzung, sondern an zwei Tagen. Dann werden die Sequenzen im Studio Stück für Stück hintereinander montiert.

 

Der Film macht das Zerschnipselte durch Blankscreens kenntlich. Ausserdem verrät es sich durch die vielen Änderungen von Kleidung und Haltung. Einmal blickt Oscar Forel mit wachem Blick in die Kamera, dann wieder spricht er mit geschlossenen Augen vor sich hin. Und mit den Unbefangenheit eines Kindes verrät er die Künstlichkeit des Arrangements: „Was wollen Sie noch von mir hören?“ Eine schwache Frauenstimme aus dem Off gibt Anweisungen. Darauf Forel: „Aber das habe ich doch schon gesagt!“ Das zeigt: In seinem Fall waren, abweichend von der Praxis, Wiederholungen nötig.

 

Was nun aber herüberkommt, hat beeindruckende kaustische Qualität. Jedes Take ist scharf umrissen. Mit sicherem Strich zeichnet der Hochbetagte Situationen und Menschen nach und zielt, ohne Floskeln und Blabla, direkt auf den Kern der Sache. Diese Unbefangenheit hat ihm der Vater vorgelebt. Nie wich er vom geraden Weg ab, immer stand er zur Wahrheit. Das machte Auguste Forel authentisch und greifbar. Und den Sohn auch. „Qualis rex, talis grex“, sagten die Römer. (Wie der Herr, so das Gscherr.)

 

Die direkte Linie liegt den Forels im Blut. Prokrastination ist ihre Sache nicht. Einmal brachte Papa Forel, begleitet vom Sohn, Schuhe zum Flicken. „Wie kommt es“, fragte der ehrfurchtgebietende Direktor der Landesheilanstalt Burghölzli den Schuhmacher, „dass es Ihnen gelingt, Alkoholiker zu heilen, mir aber [trotz Hypnosetherapie] nicht?“ Der Angesprochene entgegnete: „Ich trinke nicht.“ Mit aufwallendem Zorn lief der Psychatrieprofessor nach Hause, verschenkte den Weinkeller seinen Freunden und unterschrieb beim Blauen Kreuz einen Abstinenzvertrag für zwei Jahre, den er dann bis zu seinem Lebensende weiter einhielt. (Der Sohn auch.) So wurde Auguste Forel, wie der Brockhaus von 2006 schreibt, zum „Vorkämpfer der Abstinenzbewegung, der Volkserziehungsidee sowie des Völkerfriedens.“

 

Die „direkte Linie“ der Forels drückt sich nun auch in Oscars Sprachstil aus. Gefragt, wie er als Kind war, antwortet er schlicht: „Ein Nichtsnutz.“ Er horchte hinter der Tür, als der Vater seinen Skandalerfolg „Die sexuelle Frage“ (1905) diktierte. Mit dem Aufgeschnappten kam er dann bei seinen Kameraden gross heraus. Das Buch aber wurde ein Longseller. Es wurde in sechzehn Sprachen übersetzt. „Die sechzehnte war Arabisch“, erklärt Oscar Forel, der nach dem Tod des Vaters die Publikationsrechte inne hatte. „Ich habe zwar die Übersetzung nicht prüfen können, aber den Vertrag trotzdem unterschrieben.“

 

Dreissig Jahre nach Erscheinen der „sexuellen Frage“ kreuzt der Berliner Psychatrieprofessor Göring bei Oscar auf, um das Buch als Druckwerk der Reichsregierung verbreiten zu dürfen, mit einem Zusatz des Führers. „Ich hab’ ihn gleich spazieren geschickt“, vermerkt Oscar Forel dazu trocken. Gleichwohl leistet er der Einladung nach Berlin Folge. Der Besuch ist faszinierend: „Ich sah in alles hinein.“ Der Interviewer: „Um die Informationen dem Schweizer Geheimdienst weiterzuleiten?“ Forel: „Selbstverständlich.“

 

In diesen Worten spricht sich der Adel der Aufgeklärten aus, wie man ihm auch in Sigmund Freuds Brief an den amerikanischen Neurologieprofessor James J. Putnam begegnet. Da zitiert Freud einen Ausspruch des Ästhetikers Friedrich Theodor Vischer: „Das Moralische versteht sich immer von selbst“, und fährt dann fort: „Ich glaube an Rechtsinn und Rücksicht für den Nebenmenschen; an Missvergnügen, andere leiden zu machen oder zu übervorteilen, kann ich es mit den besten, die ich kennengelernt habe, aufnehmen. Ich habe eigentlich nie etwas Gemeines und Boshaftes getan und spüre auch keine Versuchung dazu, bin also gar nicht stolz darauf. Warum ich – übrigens meine sechs erwachsenen Kindern ebenso – ein durchaus anständiger Mensch sein muss, ist mir ganz unverständlich.“

 

Weil sich das Moralische immer von selbst versteht, unterstützt Oscar Forel im Zweiten Weltkrieg die Résistance. Seine Privatklinik liegt nah an der Grenze zu Frankreich. So kann er manch Verfolgtem helfen, den Henkern zu entgehen. „Nach dem Krieg haben mir alle die Auslagen zurück­erstattet.“ Auch das war selbstverständlich.

 

Der unerschrockene Mut, den Tatsachen ins Auge zu blicken (wie anders könnte sonst ein Arzt und Psychiater den Menschen helfen?), führt dazu, dass Oscar Forel der Autopsie seines Vaters beiwohnt. Der ist einer Fehldiagnose erlegen, die ein befreundeter Medizinprofessor ausgestellt hat. Nun kommt die Wahrheit ans Licht. Ihr auszuweichen wäre für die Forels ein Verbrechen.

 

So ist es naheliegend, dass Oscar Forels scharfes Auge zur Aphoristik neigt. Es macht ihm Vergnügen, die Dinge durch Zuspitzung auf den Punkt zu bringen. Aus seinen gedruckten Aphorismen liest er vor:

 

Der Wille ist ein Wunsch, der sich verwirklicht.

 

Das Gedächtnis ist eine Sache; die Intelligenz eine andere. An den Examen wird oftmals die erste für die zweite genommen.

 

Der Mensch: Das einzige Tier, das sich besäuft und mehr zerstört, als es zum Leben braucht.

 

Am Ende zeigt das Porträt der „Plans Fixes“ den 89jährigen in seinem Garten. Er blickt an einem Baumstamm hinauf, er blickt auf eine offene Blüte nieder. „Die Atomspaltung hat das Tor zur Hölle geöffnet. Ich fürchte, dass wir uns noch stärker von der Natur entfernen, die doch unser aller Mutter ist. Sie gibt uns alles, was wir für unser Glück brauchen. Respekt sollten wir vor ihr haben, und uns in ihr benehmen wie Gäste, nicht wie Eigentümer.“

 

Das sagt Oscar Forel bei der Aufnahme im Mai 1980. Unterdessen ist das Anthropozän voll ausgebrochen.

 

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