Roland Stähli: Ich erinnere mich ...

13. September 1917 – 28. August 2010.

Aufgenommen am 15. Mai 2009 in Tramelan.

http://www.plansfixes.ch/films/roland-stahli/


> Welch ein Glück, ist das Kamerateam in den Jura gefahren, um Roland Stählis Erinnerungen in seinem vorletzten Lebensjahr festzuhalten! Augen und Ohren des 91jährigen beginnen zwar abzugeben, „allein im Innern leuchtet helles Licht“ (Faust II). Und dieses Licht fliesst nun dank dem Film in unsere Herzen. Ein kostbares Vermächtnis. < 


Wenn die Rede auf Generalsekretär H. fiel, brachten die Kräfte in Verwaltung und Politik die Partikel „Sir“ zur Anwendung. Denn er war eine respektierte, gediegene Persönlichkeit. Sein Wort hatte Geltung. Seine Anordnungen wurden umgesetzt. Natürlich gehörten zu ihm eine etwas steife Distanz, Gleichmässigkeit des Benehmens und eine lakonische Ausdrucksweise. Wer ihn besser kannte, sah mit der Zeit, dass er nicht besser zu kennen war. Er blieb in allen Situationen gleich unfassbar. Deshalb nannten ihn seine Freunde unter sich „Poker Face“.

 

Als Pensionierter lud mich H. zu einer Abendfahrt auf dem Thunersee ein. Er habe mir noch etwas zu sagen. Der Dampfer fuhr los. Es gab Vorspeise, Hauptgang, Dessert. In der Beatenbucht wendete das Schiff und fuhr zurück. Immer noch hatte Sir H. das grosse, unbekannte Thema nicht angeschnitten. Erst auf der Höhe von Gunten unterbrach er seine Rede: „Ich muss dir noch etwas sagen. Aber behalte es für dich. Ich habe mit elf den Vater verloren.“

 

Ich antwortete nickend und gedehnt: „Jaaa ...“ und schwieg. Sir H. auch. Nach einer Weile nahm ich den Faden wieder auf: „Das muss schlimm gewesen sein.“ Darauf erwiderte Sir H. nichts. Der Kellner brachte die Rechnung. „Du bist eingeladen“, sagte Sir H. Ich dankte. Als das Schiff in Thun anlangte, gaben wir uns die Hand und gingen auseinander.

 

Roland Stähli hat den Vater auch verloren. Er erlag 1920 der spanischen Grippe. Das Kind war damals drei Jahre alt. Als Mann kann er über den Todesfall sprechen. „Ich erinnere mich“, sagt er. (Und so lautet auch der Film, dem er sein Vermächtnis anvertraut hat.) „Meine Augen reichten gerade bis zur Höhe der Matratze. Auf ihr lag der glühende Kopf des Vaters.“ Ein paar Tage später lag dort ein Toter. Das Kind musste sich von ihm mit einem Kuss verabschieden. „Er war ganz kalt“, sagt der 91jährige und erschauert.

 

In dem Moment ereignet sich im Film eine zweite Art von Rede. Neben der bewussten, gewählten, mit ihren geistigen Inhalten und ihrer fabelhaften Korrektheit (Stähli verwendet noch das Passé simple und den Subjonctif), spricht nun, durch Veränderung von Blick, Stimme, Haltung und Gestik, das Gefühl. Und der Sprechende ist jetzt nicht mehr „da“, sondern „dort“. Immer wieder ereignet sich das im Lauf des einstündigen, mit langen Pausen durchsetzten Monologs. Hinter den Rissen aber, die sich in Stählis Mitteilung auftun, erfasst uns ein Jenseitiges, das gleichzeitig Vergangenheit ist und Gegenwart.

 

In diesen Momenten fallen drei Zeiten übereinander: (1) Unsere Gegenwart beim Betrachten des Films, (2) Stählis Gegenwart zum Zeitpunkt der Aufnahme und (3) die Gegenwart des erzählten Ereignisses. Die Stufen von Rede und Film aber führen uns in die geheimnisvolle Unmittelbarkeit des sich Zutragenden.

 

Heimito von Doderer nannte das „Transzendenz in der Immanenz“ (das heisst: Jenseits im Diesseits) und sah darin das Höchste, was Kunst leisten könne. In der Begegnung mit Roland Stähli flackert die Transzendenz immer wieder auf. Am berührendsten, wenn er auf die Aktivdienstzeit zu reden kommt.

 

1942, mitten im Krieg, lernt er seine Frau kennen. Damit begann, erklärt er, ein Liebesroman, der 44 ununterbrochene Jahre dauerte. Dann hat er sie – es ist zwei Jahrzehnte her – verloren ... Diese ganze Spanne von Zeit, Glück und Leid hat sein Leben umfasst ... Jetzt sitzt er da im Lehnstuhl und versinkt in langes Schweigen. Hinter seinem Gesicht arbeitet es. Währenddem blicken wir auf die bewegte Fläche des Bildschirms und erfahren eine besondere Form von Hilflosigkeit: Wir können Roland Stähli nichts zurückgeben; wir können nur von ihm empfangen.

 

Damit bleibt uns nichts übrig, als uns nach dem Ende des Films von ihm und seiner Vergangenheit abzuwenden und uns unserer Gegenwart zuzuwenden. Nur mit dieser Umkehr vom Medium zum Leben können wir auf das Empfangene antworten.

 

Das ist die Lektion, die uns Roland Stähli in seinem vorletzten Lebensjahr gegeben hat. Er war eben von Beruf Lehrer, das heisst (auf Französisch): „professeur“, etymologisch: „der Bekennende“. Welch ein Glück, ist das Kamerateam am 15. Mai 2009 noch zu ihm in den Jura gefahren!

 

Roland Stähli gegenüber war Sir H. in des Wortes eigentlichster Bedeutung Generalsekretär; das heisst (etymologisch): der umfassend Verschwiegene. Sein Verhältnis zu Welt, Leben und Menschen war sachlich geprägt. Nicht der Vorgang interessierte ihn, nicht die Begegnung; sondern das Traktandum, das Problem, das Resultat. Er stand eben in der Ich-Es-Beziehung. Aus diesem Grund erfuhr man an ihm ein Phänomen, das Goethe als erster beschrieben hat: „Der Zugeschlossene schliesst alle zu, und der Offne öffnet, vorzüglich, wenn Superiorität in beiden ist.“

 

Roland Stähli, „der Offne“, stand zu Welt und Menschen in der Ich-Du-Beziehung. Mit ihr definiert Martin Buber das Geheimnis der Unmittelbarkeit: „wer sich drangibt, darf nichts von sich vorenthalten“. In dieser Beziehung leben zu können, ist ein Geschenk. Roland Stähli nennt es „ein Privileg“.

 

Im Film erzählt er, wie es sich ereignete, dass er in die Ich-Du-Beziehung eintrat. Nach dem Tod des Vaters wurde die Mutter, sie war noch keine dreissig Jahre alt, depressiv. Das Kind vernahm nachts ihr unterdrücktes Schluchzen. Da stand es auf, kletterte ins Elternbett, streckte den Arm aus und sagte: „Mama, ich bin da!“ Mit dieser Gebärde erreichte Roland Stähli die Mutter. Sie hörte auf zu weinen.

 

Wer in der Ich-Du-Beziehung lebt, wird für die andern zum Segen.

 

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