Yves Yersin: Der Alchimist des Kinos.

4. Oktober 1942 – 15. November 2018.

 

Aufgenommen am 2. Dezember 2014 in Yverdon-les-Bains.

http://www.plansfixes.ch/films/yves-yersin/

 

> Beeindruckend, faszinierend: Ein 72-jähriger Cineast blickt auf seine Laufbahn und sein Leben zurück, und kein Wort ist überflüssig, keines falsch gesetzt. So werden die Sätze zu Gliedern einer Erzählkette, deren Folgerichtigkeit goethesche Klassizität erreicht. Yves Yersin aber stammt nicht aus der wohlhabenden Bürgerschicht, sondern aus einem kleinen Dorf am Genfersee. Und dort hat er auch nur die Primarschule besucht. <

 

Schon der Anfang nimmt gefangen. Der Interviewer will wissen, wie Yves Yersin als Bub war. Und der Cineast antwortet: «Dick. Übergewichtig.» Er war der mittlere von drei Söhnen. Die Brüder brillant. Vielversprechend. Yves aber: Ein Dummkopf. Ein Versager. Zur Enttäuschung von Eltern und Lehrern bestand er das Probesemester an der Sekundarschule Rolle nicht. Er musste zurück in die Dorfschule von Mont-sur-Rolle. In der Zeit liess sich der Vater scheiden: «Das hat mein Verhältnis zu den Frauen geprägt.» «Wie?» «Die Heirat ist eine Bedrohung für die Frau.» – Das hohe sprachliche Formbewusstsein, das Yves Yersin zeigt, zeugt von hoher Bewusstheit. Und die Reinheit, mit der er sich ausdrückt, weist aus, dass er mit sich ins Reine gekommen ist.

 

Die Sätze, die Egon Friedell formuliert hat, um Goethe zu beschreiben, treffen nun auch auf Yves Yersin zu: Er «nahm die Kunst überhaupt nicht übermässig ernst. Er hatte nichts von der – bis zu einem gewissen Grade notwendigen – Monomanie des Künstlers, dem sein winziger Ausschnitt aus der Gesamttätigkeit der Menschheit den Angelpunkt der Welt bedeutet. So beschäftigte sich Goethe, trotz unablässigster, sorgfältigster und vielfältigster Wirksamkeit, nie und mit nichts. Er war immer Amateur, Liebhaber, Gelegenheitsdichter, Gelegenheitdenker, Gelegenheitsforscher. Alles entstand bei ihm scheinbar durch Zufall, obschon nach innerster Notwendigkeit. Alles ist ihm eben gleich wichtig, alles ist ihm gleich interessant. Er nimmt sich niemals etwas vor. Er lässt sich niemals zu etwas drängen. Er weiss: Ist etwas für ihn notwendig, so wird es schon eines Tages von seiner Seele Besitz ergreifen. So paradox es klingt: Goethe, diese ungeheure geistige Energie, die nahezu alles, was vor ihr in menschlichen Köpfen gewesen war, resorbiert und verarbeitet hat, war eigentlich keine aktive, sondern eine träge Natur.»

 

Bis in die Details der Formulierungen hinein spiegelt sich Friedells Charakterisierung Goethes in der Selbstbeschreibung, die Yves Yersin von sich gibt. Auch wenn sein Leben einen ganz anderen Lauf nahm als der Goethes, auch wenn sich seine Herkunft und seine Zeit in keiner Weise mit dem Milieu des hochbegabten Frankfurter Grossbürgerssohns vergleichen lassen, hat sich auch Yves Yersin alles Wesentliche selber erarbeitet.

 

Er packte, wie Goethe, die Gelegenheiten, die ihm das Leben zuspielte, beim Schopf. Am Anfang der Aufnahme erklärt der 72-jährige, was sein Cineastenleben ausmachte: Alles war ihm gleich wichtig, alles gleich interessant. Aber immer wollte er die Sache gut machen. Aus dem Gelingen – das letzten Endes ein Überwinden war – zog er seine Befriedigung. Damit brachten ihn schon die ethnographischen Auftragsfilme weiter, mit denen die Karriere begann.

 

Es ging darum, aussterbende Berufe zu dokumentieren, und zwar so exakt, dass die Bewegungen der Hände, welche Materie bearbeiteten, für alle Zeiten nachvollziehbar festgehalten blieben: Zum Beispiel die Anfertigung von Spanschachteln für den Vacherin-Käse. Oder das Schmieden von Ketten und Nägeln. Oder das Giessen von Kuhglocken. Im Lötschental filmte Yves Yersin die Arbeit eines Störschusters, also eines Handwerkers, der von Bauernhaus zum Bauernhaus zog, um für die Bewohner Schuhe anzufertigen. Seine Arbeitsfläche war nicht grösser als ein Servierbrett. Und drei Tage lang bestand die Tätigkeit vornehmlich aus Nähen. Da lernte Yves Yersin, wie wichtig für den Film der Umgang mit Zeit und Raum ist.

 

Indem er von Auftrag zu Auftrag weiterkam, scheinbar durch Zufall, obschon nach innerster Notwendigkeit, reifte langsam der Plan zu einem abendfüllenden Spielfilm. Packend genau erzählt der Cineast, wie er das «fait divers» von einem Knecht aufschnappte, der sich in alten Tagen ein Mofa kauft, um die Welt zu entdecken. Die Verfilmung der Geschichte schafft es am Ende nach Cannes. «Les Petites Fugues» werden Yersins grösster Erfolg. Dahinter aber steht eine ungewöhnlich lange Entstehungszeit. «Ich war immer der langsamste Filmemacher im Norden der Waadt, ja der Westschweiz.» Das Drehbuch: zwei Jahre. Der Film: fünf Jahre.

 

Indem der Cineast vom Bohren dicker Bretter erzählt, wandert der Fokus mal ins Menschliche, mal ins Konzeptionelle, mal ins Politische, mal ins Ökonomische, mal ins Erzähltechnische, mal ins Cineastische. Yves Yersin aber ist das geworden, was er immer werden wollte: ein Filmemacher. Diesen Vorsatz fasste er am Ende der Schulzeit, nachdem er «Hiroshima, mon amour» gesehen hatte.

 

Dazu erklärt der Vater der psychologischen Skript-Theorie, Eric Berne: «Der Gewinner ist definiert als eine Person, die ihren Vertrag mit der Welt und mit sich selbst erfüllt. Das heisst, sie macht sich auf, etwas zu tun, sagt, dass sie sich dafür einsetzt, und tut es auf lange Sicht. – Ein Gewinner weiss, was er tut, wenn er verliert, aber er spricht nicht darüber; ein Verlierer weiss nicht, was er tun wird, wenn er verliert, aber er spricht über das, was er tun wird, wenn er gewinnt. Es dauert also nur ein paar Minuten, um an einem Spieltisch oder bei einem Börsenmakler, in einem häuslichen Streit oder in einer Familientherapie die Gewinner und die Verlierer herauszufinden.» So auch in den Porträts der «Plans Fixes».

 

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