François Margot: Der Abt-Präsident, der Zufall und die Neugier.

14. August 1953 –

 

Aufgenommen am 31. Mai 2019 in Vevey.

http://www.plansfixes.ch/films/francois-margot/

 

> Fünfzig Minuten lang hat François Margot über sich und das Winzerfest von Vevey 2019 Auskunft gegeben. Nun resümiert der Interviewer: «Dann könnte man sagen, Sie seien ein Honnête Homme!» Der Präsident der Winzer-Bruderschaft nickt. Er verkörpert in seinem Auftreten das Persönlichkeitsideal des französischen Klassizismus, wie es Nicolas Faret 1630 in einem Buch umrissen hat: «L’honnête homme ou L’art de plaire à la cour». – Eine eindrückliche Begegnung. <

 

Vor dreissig Jahren war der Interviewer Patrick Ferla in der Westschweiz eine grosse Stimme (une grande voix). Bei «Radio Suisse Romande La Première» bestritt er mit «Petit déjeuner» eine Morgensendung, die von Schweizer Radio International übernommen und auf Kurzwelle in die Welt ausgestrahlt wurde. Jeden Morgen um 9 Uhr setzten sich Prominente im Studio Lausanne an den Frühstückstisch, und Ferlas erste Frage war: «Café, thé ou chocolat?» So locker war der Einstieg, und so locker entwickelte sich danach eine Stunde lang die Unterhaltung.

 

Wenn Musik lief, konnten die Gäste ein Stück von ihrem Croissant abbeissen und einen Schluck Café, Thé oder Chocolat zu sich nehmen. Dann setzte Patrick Ferla das Gespräch fort. Er gestaltete es auf jene improvisatorisch-wohlwollende Art, mit der einst Kommissar Maigret am Quai des Orfèvres die schweren Jungs zum Geständnis gebracht hatte. Scheinbar unsystematisch tippte er dies und jenes an, liess dann die Leute reden und führte mit kurzen Interventionen die Unterhaltung allmählich zu vollständiger Erhellung des Tatbestands beziehungsweise der Persönlichkeit.

 

Dasselbe passiert nun in den «Plans Fixes» bei der Begegnung mit François Margot. Unauffällig sorgt Patrick Ferla dafür, dass die Persönlichkeit des Befragten zum Vorschein kommt, um am Ende festzustellen: «Sie sind ein Honnête Homme!» Der Präsident der Winzer-Bruderschaft kann nur nicken – gleich wie der informierte Zuschauer. Der Honnête Homme des 17. Jahrhunderts nämlich war, erklärt der Brockhaus, «universal gebildet, taktvoll, ein Meister der Konversation und Kommunikation und zeigte sich als zurückhaltender, aber aufmerksamer Beobachter.»

 

Was ist aber die «Confrérie des vignerons»? Eine Bruderschaft (darum der Titel «Abbé») mit zunftmässigen Aufgaben (darum der Titel «Président»). Wenn die «Fête des Vignerons» in seine Amtszeit fällt, wird der Abbé-Président zum Herrn eines Mega-Events, das sich auf der Place du Marché von Vevey ausbreitet, Hunderte von Freiwilligen in Beschlag nimmt und, wie 2019, Zehntausende aus der Schweiz herbeiströmen lässt.

 

Wenn nun mit François Margot ein Mann an der Spitze steht, der im Elternhaus und an der Klosterschule von Saint-Maurice weltmännisches Format eingesogen hat, lässt sich an ihm ablesen, was der Titel «immaterielles Kulturerbe der UNESCO» bedeutet. (Das nahegelegene Weinbaugebiet Lavaux gehört schon seit 2007 zum UNESCO-Welterbe.)

 

Es ist dann nicht belanglos – gerade in einer Zeit, in der alles fliesst –, dass Margots Väter und Vorväter schon der «Confrérie des vignerons» vorstanden. Für den Auftritt am Winzerfest liess sich François’ Grossvater 1955 den Bart wachsen. Wenn er den Zweijährigen in die Arme nahm und küsste, stachen dem Kind die Haare in die Wangen. Daran erinnert sich der 65-jährige heute. Auch, dass das Haus voller Farben war. Denn die Familienmitglieder bewegten sich alle im Kostüm. Kein Wunder, beschäftigte sich François an den beiden folgenden Winzerfesten, 1977 und 1999, mit dem Kostümwesen.

 

Die Vorbereitungen zu den Festen fanden «in diesem Haus» statt, das schon die Väter bewohnten. Und «an diesem Tisch», an dem schon die Väter sassen, kamen die Abbés-Présidents mit den Theaterkünstlern, Choreographen und Komponisten zusammen.

 

Auf diese Weise bringt die Begegnung mit François Margot vor Augen, was Kontinuität verlangt: Verwurzelung. Und die wiederum bedeutet: Verpflichtung. Durch Kooptation liess sich François Margot zum 36. Abbé-Président ernennen, und er trat damit in eine lange Reihe von Vorgängern ein, die wohl – so ist allen Weltereignissen zum Trotz zu erwarten – in eine lange Zukunft hineinführen wird.

 

«Kooptation» aber bedeutet, um nochmals den Brockhaus zu zitieren, die «Hinzuwahl neuer Mitglieder in eine Gruppe durch die dieser Gruppe bereits angehörenden Mitglieder; heute zum Teil nur noch in Körperschaften, Verbänden oder Unternehmen üblich. Dabei werden in der Regel nur diejenigen gewählt (kooptiert), von denen angenommen wird, dass sie in die Gruppe ‹passen› beziehungsweise sich gut in die Gruppe integrieren lassen. Dies ermöglicht einerseits relative Gruppenstabilität, führt aber anderseits tendenziell zur Ausschaltung neuerer beziehungsweise kritischer Einflüsse. (→ Eliten)»

 

Das Gespräch, welches Patrick Ferla mit François Margot führt, lässt all diese Themen aufscheinen. Am stärksten aber das existentielle. Im «Kampf mit dem Drachen», einer «Anleitung zur Sozio-Logie», erklären Farhad Afshar, Eva Gerber und Peter Schädelin: «Der Tod bildet die erste und grundlegende Prämisse der Sozio-Logie. Er ist der Primärwiderspruch des Lebens. Hierbei besteht ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen Individuum und Kollektiv: Das Individuum stirbt, während das Kollektiv fortbesteht. Durch Institutionen garantiert das Kollektiv Kontinuität über den individuellen Tod hinaus. Der individuell erfahrbare Tod wird kollektiv aufgefangen.»

 

Weil sich die Dinge so verhalten, wird François Margot am übernächsten Winzerfest mit Garantie nicht mehr teilnehmen. Und die allermeisten Leser dieses Essays ebenfalls nicht. Aber immer noch werden Hunderte von Freiwilligen und Zehntausende von Besuchern auf der Place du Marché von Vevey zusammenkommen, und wer dabei sein wird, wird’s bezeugen können.

 

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