Martial Leiter: Variationen für ein Schattentheater.

14. April 1952 ­–

 

Aufgenommen am 9. Februar 2018 in Lausanne.

Martial Leiter – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Martial Leiter ist eine Eule. Wenn die andern anfangen, das Bett aufzu­suchen, beginnt seine beste Zeit. Dann stellt er sich an den Tisch und nimmt die Arbeit auf. Er taucht Pinsel verschiedener Dicke aus dem Haar von Ziege, Dachs und Pferd in schwarze Tinte und fährt damit über weisses Papier. So ist er in der Nachtstille zwischen zehn und drei am Entstehen von Zeichnungen beteiligt, gleichzeitig als deren Macher und erster Betrachter, und bei dieser Tätigkeit erlebt er das Geheimnis der Schöpfung. Der Künstler hat keine Erklärung. Er murmelt bloss: „Intuition“, und zuckt ergeben mit der Schulter. <

 

Wenn Martial Leiter für die „Plans Fixes“ Auskunft gibt, lässt sich sein Lebenslauf in den Worten zusammenfassen: „Es hat sich so ergeben.“ Und da es, so wie es war, gut war, wünschte er, befragt von Patrick Ferla, nichts anderes zu machen, wenn er noch einmal anfangen könnte.

 

Vielleicht spielt der Einfluss, ja das Vorbild des Vaters eine Rolle. Der Mann war invalid. Eine Kinderlähmung, gegen die es damals noch keine Impfung gab, behinderte seinen Körper. Anfangs nur schwach. „Er schleifte das Bein nach“, erzählt Martial Leiter. „Doch bis zum Alter von vier, fünf Jahren war ich zu jung, um es zu bemerken. Später brauchte er eine Krücke, dann zwei, und am Ende landete er im Rollstuhl. Nie aber liess sich sein Geist das geringste anmerken. Er war immer heiter und gelöst, auch als ich anfangen musste, ihn zu pflegen.“ Für Martial Leiter war das „eine schöne Erfahrung“. Er ist für sie dankbar.

 

Das Einkommen erzielte der Vater als Uhrenarbeiter. „Hat er den Beruf selbst gewählt?“, fragt Patrick Ferla. „Im Val de Travers stellte sich diese Frage nicht“, entgegnete Martial Leiter, „doch ich glaube ja“.

 

Vermutlich spielte auch der Einfluss, ja das Vorbild des Vaters eine Rolle, dass Martial Leiter schon als Kind zu zeichnen begann. Denn mit Zeichnen gestaltete man in der Familie die Freizeit. Aber der Gedanke, aus den schönen Künsten (wie man damals sagte) einen Beruf zu machen und davon zu leben, lag ausserhalb des Horizonts. Wenn Stift und Papier schon eine Faszination ausübten, sollte sich das Talent in einem nützlichen Rahmen entfalten. Martial kam in eine Maschinen­zeichnerlehre.

 

Parallel zur Berufsausbildung absolvierte er ein Fernstudium in künstle­rischem Zeichnen. Die Eltern ermöglichten ihm diese Ausbildung unter erheblichen finanziellen Opfern. Mit 66 spricht Martial Leiter dankbar über die Selbst­losig­keit der Eltern und über die solide Ausbildung, die ihm die amerikanischen Lehrer gegeben haben.

 

Für die erste Ausstellung mietet Martial mit 18 einen Saal im Bahnhof von Fleurier. Der Schritt hat zwei Folgen. Erstens: Ein vornehmes durch­reisendes Paar steigt aus der Limousine und beschaut sich die Bilder: „Das und das und das nehmen wir. Und das dort auch. – Kennen Sie Picasso? Ich bin der Neffe. Selber Maler. Besuchen Sie mich mal in Paris.“

 

Das zweite Ereignis ist ein Anruf. Die welsche Tageszeitung „24 heures“ lädt Martial Leiter zur Mitarbeit ein. Gefragt sind Pressezeichnungen. Also wortlose Darstellungen der Weltlage. „Zum Glück nicht tagesaktuell“, erklärt der Künstler. Auf diese Weise kann er weiterhin seinen kontemplativen Temperament nachgehen, nachts zwischen zehn und drei.

 

Später ruft „Le Monde“ an. Der Zeichner glaubt an einen Scherz. Doch es ist ernst. Das führende Pariser Blatt will ihn haben. Auch „Le Monde diplomatique“, „Le Temps“, „Le Courrier de Genève“, der „Tages Anzeiger“, „Die Zeit“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.

 

Der Film über Martial Leiter blendet immer wieder Beispiele seines Schaffens ein. Sie beglaubigen Wilhelm Buschs Satz: „Wer zusieht, sieht mehr, als wer mitspielt.“ Und am Zeichner zeigt sich während der Begegnung: „Der Weise äussert sich vorsichtig, der Narr mit Bestimmtheit über das kommende Wetter.“ (ebenfalls Busch.)

 

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